Aus Erfahrungen lernen

Ich war kürzlich an der Berufs- und Weiterbildungsmesse in Baden. Zur Messe gehörte auch ein Forum mit verschiedenen Vorträgen. Das gemeinseame Thema aller Referate war die Frage nach den Anforderungen an Berufsleute: Was wird von jemandem, der sich heute auf eine Stelle bewirbt, erwartet? Drei Präsentationen waren Antworten gewidmet aus der Sicht der Forschung, aus der Sicht grosser, international tätiger Firmen und aus der Sicht der KMU’s. Ein Vortrag beschäftigte sich mit den Möglichkeiten und Bedingungen, welche die junge Generation – die Generation Y – von den Arbeitgebenden erwartet?

Gehalten wurden die Referate von Ursula Renold, Dina Mardner, Ueli Jost und Philipp Riederle.

Bei dem Folgenden handelt es sich nicht um ein Ré­su­mé der Vorträge, sondern um meinen eigenen Roten Faden, den ich mir im Laufe des Abends beim Zuhören gebildet habe: Informationen und meine Überlegungen dazu. Wer sich für die Präsentationen interessiert, kann sie hier herunterladen.

Forschung: Steigende Bedeutung der beruflichen Erfahrung.

Ursula Renold, die Leiterin des Forschungsbereichs Bildungssysteme an der KOF, hat unter anderem in ihrer Präsentation eine Grafik aus dem Stellenmarktmonitor gezeigt, die eindrücklich belegt, wie sich in den vergangenen 60 Jahren die Anforderungen an Stellensuchende verändert haben. Besonders auffällig ist der Anstieg der Erwartung hinsichtlich der beruflichen Erfahrung. Wurden 1950 nur bei rund 10% der Bewerbenden eine berufliche Erfahrung vorausgesetzt, so ist dieser Wert seit Mitte der 70er-Jahre exponentiell angestiegen: er lag 2010 bei rund 70%. Zwar ist auch die Forderung nach einer Berufslehre oder einer Tertiär- und Zusatzausbildung gestiegen, aber interessanterweise ist der Anstieg hier schwächer als jener bei der Erfahrung.

Die Frage, die ich mir stelle: Wenn die berufliche Erfahrung einen so hohen Stellenwert einnimmt, wie kann sie in der Praxis verlässlich beurteilt werden? Gewiss, es gibt den Lebenslauf, die Arbeitszeugnisse, die Ausbildungsnachweise, allenfalls auch Kompetenzraster. Aber in Bewerbungsverfahren kommt es öfter vor, als es den Verantwortlichen lieb ist, dass alle diese Papiere mehr Schein als Sein sind. Viel gemacht zu haben, bedeutet nicht notwendigerweise, aus den gemachten Erfahrungen etwas Anwendbares gelernt zu haben. Dazu kommt, dass, wenn alle Kandidatinnen und Kandidaten über Titel in Aus- und Weiterbildungen verfügen, die vielen Nachweise inflationär an Wert verlieren: Sie eignen sich kaum mehr als Unterscheidungskriterium für Personalverantwortliche.

Rahmen und Gelegenheiten schaffen für Erfahrungslernen.

Dina Mardner, die Vizepräsidentin der Human Ressources bei Alstom, zeigte auf, wie man in ihrer Firma diesem Problem beizukommen versucht. Alstom als Arbeitgeber beschäftigt rund 6500 Mitarbeitende aus 90 Nationen, davon 2300 Ingenieure. Um zu den Kompetenzen zu kommen, die Alstom bei ihren Mitarbeitenden braucht, wird neben Weiterbildungsmassnahmen das Lernen durch Erfahrung gefördert: Talententwicklung, Job-Rotation (insbesondere auch international), Coaching, Funktionswechsel. Zentral ist dabei die spezifische Förderung der einzelnen Mitarbeitenden gemäss deren Fähigkeiten und den Anforderungen der Firma.

Mein Gedanke dazu: Warum wird das nicht vermehrt auch anderswo gemacht? Etwa in KMU’s, in sozialen Institutionen, oder auch an der Volksschule. Alstom ist ein grosser Betrieb, der „sich das leisten kann“, wird man mir sagen. Aber es wäre durchaus möglich, dass sich verschiedene Betriebe, Institutionen oder Schulen überregional zu einem Verbund zusammenschliessen würden und innerhalb dieses Verbunds Jobrotation, Funktionswechsel und Austauschmöglichkeiten organisiert werden könnten. Das würde zwar die bei Alstom geforderte Bereitschaft zu Flexibilität, Reisebereitschaft und zur interkulturellen Kompetenz verlangen. Es wäre aber ein grosser Gewinn für die Verbundspartner. Auf diese Weise würde nicht nur der Austausch von Arbeitsweisen, Betriebskultur und Know-how ermöglicht, ein solcher Verbund käme auch der Besetzung neuer Stellen zugute.

Schon seit längerem beschäftigt mich die Frage, warum Wissen und Können in vielen Bereichen fast ausschliesslich in Bildungsinstitutionen gewonnen werden soll. Das Erfahrungswissen kompetenter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wird meiner Erfahrung nach zu wenig genutzt. Es könnte sehr viel Know-how Transfer direkt durch den Austausch in der gemeinsamen Arbeit erfolgen. Diese Art des „horizontalen“ Lernens wäre günstig zu haben und käme unmittelbar Betrieben, Institutionen und Schulen zugute. Die wichtigste Voraussetzung wäre, dass solche Formen des Lernens auch anerkannt und in einer geeigneten Form nachgewiesen werden können. Die Personalentwicklung hätte in einem solchen Verbund eine zentrale Stellung: Dass Vorgesetzte sich coachen lassen und als Mentor oder Mentorin ihre Mitarbeitenden coachen, das wäre dann selbstverständlich.

Erfahrungslernen – Ein Beispiel

In Sachen Coaching bin ich selber auch zum Zug gekommen an dem Forum, nämlich dank Ueli Jost, mit dem ich vor und nach der Veranstaltung einige Worte wechseln konnte. Ueli Jost, Inhaber & CEO der Veriset Küchen AG und der Orea AG, hat mir einige wertvolle Tipps aus seinem grossen Erfahrungsschatz mitgegeben. Er wählte dafür kurze, prägnante Formulierungen, die ich mir leicht merken konnte.

Kurze, einprägsame Formulierungen prägten auch sein Referat, in dem er die Anforderungen an Mitarbeitende im Bereich der KMU’s darstellte. Dafür wählte er den Blickwinkel seines eigenen Erfahrungslernens bei der Sanierung von Veriset. Beruflich beheimatet bei BBC, ABB und Alstom wechselte er dann in eine völlig andere Branche: den Küchenbau. Dafür war er weder ausgebildet, noch verfügte er über praktische Erfahrungen. Eine seiner wesentlichen Erkenntnisse in diesem Übergang formulierte er so: Er habe gelernt zu lernen. Der Satz liesse sich leicht als Titel eines Kurses oder eines Buches verwenden, in dem es darum gehen könnte, dass es eine Sache ist, fachlich und methodisch kompetent zu sein, eine andere, praktisch verstanden zu haben, wie man anhand sehr unterschiedlicher Problemstellungen das Lernen selber erlernt.

Überrascht und bestätigt hat mich ausserdem sein Satz, dass es Vorstellungskraft brauche, um trotz Ungewissheit die richtigen Entscheidungen zu treffen. Überrascht deshalb, weil Vorstellungskraft doch eher selten als wichtige Fähigkeit eines CEO herausgestellt wird: Facts sind gefragt und nicht Fantasie. Bestätigt aber hat mich die Aussage, weil ich selber mehrmals erlebt habe, dass es eben gerade der Mangel an Vorstellungskraft war, der zu fatalen Fehlentscheidungen führte. Zum Beispiel in dem Sinn, dass man gewisse Szenarien – Chancen oder Bedrohungen – nicht in die Überlegungen mit einbezieht, weil man sich zu sehr auf die eigene enge Vorstellung vom Realität verlässt.

Arbeiten = Lernen durch Erfahrung

Philipp Riederle, der angekündigt worden war als Deutschlands jüngster Unternehmensberater (er ist gerade mal 19 Jahre alt), Digital Native und Kommunikator, sprach zum Thema „Die Generation Y: Wer sind wir, unsere Werte, was wollen wir – auch von unseren Arbeitgebern“. Er beschrieb seinen eigenen Werdegang als einen des Erfahrungslernens – neben seinem Abitur, das er vor noch nicht allzulanger Zeit abgeschlossen hat.

Er fragte als Erstes: Was hat sich eigentlich durch die explosionsartige Digitalisierung fast aller Lebensbereiche verändert? Und antwortete mit drei Merkmalen:

1. Es ist möglich geworden, überall und jederzeit mit praktisch allen Anderen in Kontakt zu stehen.
2. Ebenso ist es möglich geworden, überall und jederzeit auf eine zuvor unvorstellbare Fülle von Informationen zugreifen zu können.
3. Und dazu gehört, dass es möglich geworden ist, von überall aus und jederzeit Informationen zu publizieren – und zwar weltweit.

Was er nicht erwähnt hat, mir aber dazu eingefallen ist: Dieser Austausch im „überall und jederzeit“ ist sehr günstig , in vielen Fällen sogar umsonst zu haben.

Was mir an Philipp Riederles Vortrag aufgefallen ist: Er beschreibt seine Generation als extrem prozessorientiert. Ihre Arbeitsweise ist das Projekt. Teams werden um ein Anliegen, eine Aufgabe herum gebildet, wechseln je nach Bedarf (und Lust) ihre Zusammensetzung, werden wieder aufgelöst. Es ist der Prozess und die Freude am „gemeinsam Etwas bewegen wollen“, wie er es nannte, dem die Strukturen der Organisation, der Kommunikation und der Zeit untergeordnet werden. Fixe und tiefe Hierarchien sowie das Arbeiten in fixen Verantwortlichkeiten ist diesen jungen Menschen fremd. Status spielt eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist es, etwas Tolles machen zu können und an einer Sache beteiligt zu sein, die als sinnvoll empfunden wird.

Ob sich diese Einstellung dem jugendlichen Alter verdankt, oder ob hier etwas eingefordert wird, was zum Kern eines neuen Verständnisses von Arbeit gehört, wird sich weisen müssen. Vermutlich eine Mischung von beidem. Tatsache ist, dass wir es hier zum ersten Mal mit Menschen zu tun haben, welche die Digitalisierung der Welt nicht von aussen beurteilen, sondern von innen. Das Stichwort heisst „Digital Natives“. Deren Selbstverständlichkeiten sind in vielem grundlegend anders, als jene, in denen wir anderen eingewanderten Mitmacher leben.

Was das für die Arbeitswelt, für den sozialen Zusammenhang und für die Sinnfindung bedeutet, das ist auch für diese Generation offen. Aber es ist in einer anderen Art und Weise offen, als es für jene ist, die nicht zu ihr gehören. Es lohnt sich, auf die Erfahrungen und Schlüsse zu hören, die sich in dieser Generation bilden – ohne die eigenen Einsichten über Bord zu werfen. Und es wird spannend sein, dem Weg dieser Generation zu folgen und zu sehen, ob und wie sich ihre Vorstellungen im Laufe der Zeit verändern.

Klar ist, dass der Umgang mit der Digitalisierung vorerst nur durch Erfahrungslernen zu bewältigen ist.  Man lernt, indem man herausfindet, wie es gemacht werden kann. Und man versteht die Bedeutung, indem man sich darüber mit anderen austauscht. Die Mittel dazu stehen in einem noch nie dagewesenen Ausmass bereit.

Die Präsentation von Philipp Riederle steht auf der Homepage der BM Baden nicht zur Verfügung. Wer sich für seine Ausführungen interessiert, dem empfehle ich das Video eines sehr ähnlichen Vortrags, den er dieses Jahr im Rahmen der HSG Alumni Plenary Session gehalten hat.

Nik Ostertag

Ich bedanke mich bei Herrn Wirthensohn, Geschäftsführer der ABB Technikerschule und Projektleiter der Berufs- und Weiterbildungsmesse Baden für seine Unterstützung und den anregenden Mailaustausch.

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